Eine Suche nach Identität und Geschichtsbewusstsein
Was ist Identität - Wir-Bewusstsein
Wir-Bewusstsein? Warum bin ich ein/e „WalgauerIn?“
Der Walgau und seine Sonderstellung in Vorarlberg
Eine Suche nach Identität und Geschichtsbewusstsein
- Unter Identität versteht man das Zugehörigkeitsgefühl und –wissen eines Individuums und/oder einer sozialen Gruppe zu einer bestimmten kulturhistorischen Gemeinschaft: Staat, Land, Region, Ort.
- Identitätsstiftend ist die Vorstellung und das Bewusstsein von Unterschied/Andersartigkeit von und zu anderen Individuen/Gruppen/Räumen. Eine große Bedeutung besitzen dabei natur- und kulturgeschichtliche Besonderheiten.
- Identität vermittelt Sicherheit, Geborgenheit, Orientierung und „Heimatgefühl“ in einer immer mehr globalisierten unübersichtlichen Welt. Sie besitzt das Potential zu sinnvoller rationaler Zusammenarbeit und Selbstbehauptung auf der Grundlage von Humanität.
Die Sonderstellung des Walgaus in Vorarlberg – Zusammenfassung
- Geologische Grenze zwischen Europa und Afrika, West- und Ostalpen
- Bronze- und eisenzeitlicher Zentralraum
- Mittelalter: Mittelpunkt rätoromanischer Kultur, Wiege des mittelalterlichen Christentums und der Schriftlichkeit, urgeschichtlich-mittelalterlicher Festungs- und Burgenraum, Konfliktzone zwischen Schweiz und Habsburg: Kriege
- Industrielle Pionierzone
- Ethnokultureller und sozialer Mischraum: Welschtiroler Einwanderer
Zeugen der Eiszeiten
Die letzte Eiszeit, die Würmeiszeit (115.000-10.000), wurde im Walgau durch Niederländer Forscher umfassend untersucht. Das Tal ist überwiegend eiszeitlich geprägt. Es gibt vielfältige Hinweise auf den mächtigen, bis auf 1400 m Höhe reichenden Ill- und dessen Seitentalgletscher vor allem aus dem Ende der letzten Eiszeit vor 18-17 tausend Jahren.
Hervorzuheben sind:
- zwischeneiszeitliche (Riß-Würm) Konglomerate im Gamperdonatal und in der Bürser Schlucht -> Meng und Alvier
- Eisrandsee Gasserplatz -> Göfis
- Gletschertopf am Ambergtunnel -> Göfis
- Eisrandterrassen Gampelün-Gurtis -> Nenzing
- Hängetäler – Randmoränen – Findlinge -> zwischen Frastanz und Nenzing
(Lit.: Friebe. Keller B. Krieg B. Simons. Wanner)
Steinzeit und Bronzezeit
Der Walgau ist das urgeschichtlich am besten erforschte Gebiet Vorarlbergs. Wir kennen etwa 13 prähistorische Fundstellen. Diese stammen aus der bronzezeitlichen Urnenfelderkultur (ca. 1300-800), der frühen Eisenzeit-Hallstattzeit (800-500) und der späten Eisenzeit-Latènezeit (500—30).
Hier lebten nach dem Ende der letzten Eiszeit, schon in der mittleren Steinzeit (6./5. Jahrtausend), mobile Jäger und Sammler.
Seit der Bronzezeit (ab ca. 2000) gab es im Walgau eine Bauernkultur mit Gehöften und kleinen Siedlungen. Da der Talboden ständig überschwemmt wurde und versumpft war, lebten die unbekannten Walgauer „Ureinwohner“ vor allem auf der sonnenreichen Nordseite in Höhensiedlungen. Diese dienten in Kriegszeiten auch als Fluchtanlagen. Der Walgau weist somit eine nachweisbar viertausend Jahre lange Siedlungskontinuität bis heute auf.
Die Menschen pflegten Kulte und Religion: Auf der Heidenburg bei Göfis gab es einen bronzezeitlichen und auf dem Scheibenstuhl bei Nenzing einen eisenzeitlichen Brandopferplatz. Das einzige Gräberfeld aus der Urnenfelderzeit fand man bei Bludenz.
Räter und Kelten der Eisenzeit
Der Walgau war und ist ein bedeutendes inneralpines Verkehrs- und Transitland. Vom Rheintal über Rankweil-Göfis führte ein Weg ins Montafon und nach Tirol - und über den gletscherfreien Rätikon ging es nach Graubünden. Dabei spielte das Gamperdonatal mit seinen Pässen eine große Rolle.
In Bludenz-Unterstein lag ein bedeutender inneralpiner Umschlagplatz für Eisengeräte und Waffen aus der Latènezeit.
In der späten Eisenzeit trafen in Vorarlberg und auch im Walgau zwei Kulturen aufeinander: Von Norden über den Bodensee und das Rheintal kamen die Kelten oder Gallier. Die ansässigen Bauern wurden von den Römern Räter genannt und in die gleichnamige Provinz eingegliedert. Über ihre Herkunft und Sprache gibt es nur Vermutungen. Die Räter bildeten auch unter der römischen Herrschaft bis ins frühe Mittelalter den wichtigsten kulturellen Bevölkerungsanteil. (Lit.: Hild. Krause. Rhomberg/Gamon. Stadler. Schmid. Wischenbarth)
Vorromanisch und Rätoromanisch
Das Rätoromanische war im Mittelalter die dominante Volkssprache im südlichen Vorarlberg - im Walgau bis zum 14./15. Jahrhundert. Die Stadtgründungen Feldkirch und Bludenz und die Ansiedlung der Walser im 14./15. Jh. führten jedoch zum Erlöschen dieser romanischen Sprache. Alemannisch setzte sich durch.
- Der Walgau wurde um Christi Geburt Teil des römischen Reiches.
- Er gehörte zur Provinz Rätien. Man sprach rätisch und keltisch.
- Das Rätoromanische entstand aus der lateinischen Soldaten- und Verwaltungssprache.
- Die meisten Walgauer Flurnamen haben rätoromanische Wurzeln.
(Lit.: Wanner/Jäger. Mayr B. Tiefenthaler)
Es gibt auch etliche Gewässer- und Ortsnamen aus der vorrömischen Eisen- bzw. Bronzezeit. Sie weisen auf die lange vorgeschichtliche Besiedlung des Walgaus hin.
Gewässer: Ill, Alfenz, Lutz, Samina Ortsnamen: Göfis, Satteins, Röns, Schnifis, Schlins, Bludesch, Ludesch, Nüziders, Bludenz
Christianisierung und frühmittelalterliche Kirchen
Der Raum um Vinomna (Rankweil) und besonders der Walgau als Teil des „Vallis Drusiana“ waren schon im frühmittelalterlichen Vorarlberg Zentren des rätoromanisch-fränkischen Christentums. Er gehörte vermutlich seit der Mitte des 6. Jahrhunderts zum Bistum Chur.
Eine verlässliche Anzahl von Sakralbauten (Kirchen bzw. Kapellen) ergibt sich erst aus dem Reichsgüterverzeichnis (Reichsurbar) des Jahres 842/43: Gotteshäuser lagen in Nenzing, Satteins, Schlins, Schnifis (zwei), Bludesch, Thüringen, Ludesch, Bürs und Bludenz. Vermutlich gab es auch Kirchen/Kapellen in Frastanz, Beschling, Göfis und Nüziders. Sie waren ursprünglich überwiegend in kirchlichem Besitz, kamen jedoch im 9. Jh. in das Eigentum weltlicher fränkischer Adeliger. Das Christentum hatte sich somit im 9. Jahrhundert endgültig gegenüber den lokalen und staatsrömischen Götterkulten durchgesetzt.
Zwischen 1982 und 1984 fanden Grabungen unter der heutigen Pfarrkirche St. Mauritius in Nenzing statt. Man konnte insgesamt elf Bauphasen nachweisen, die älteste könnte auf das 5. Jahrhundert zurückgehen. Außerdem entdeckte man fünf Gräber, vermutlich um 600 angelegt. Ob es sich beim ersten Bau um eine christliche Kapelle handelte, ist fraglich: Denn erst unter Kaiser Justinian setzte sich Mitte des 6. Jhs. das Christentum als Staatsreligion durch. Und der irische Mönch Columban stieß 610 in Bregenz auf „heidnische“ Ablehnung. Die erste Anlage könnte auch ein „heidnischer“ Kultbau gewesen sein, denn Christen errichteten ihre Kirchen häufig auf solchen Vorgängeranlagen.
Der Walgau war als Missionierungs- und Wirtschaftsraum im Norden der rätischen Grafschaft von Interesse. Hier hatten daher die Schweizer Klöster Pfäfers, Schänis, Einsiedeln und das Bistum Chur Besitzungen. Die Hauptkirche des Tales war St. Viktor und Markus in Nüziders geweiht. Sie stammt spätestens aus dem 9. Jahrhundert und besaß einen königlichen Hof. Nüziders war Hauptort im östlichen Walgau. Diese „Mutterkirche“ umfasste die gesamte Kulturlandschaft von Schlins bis Lech am Arlberg, und sie war beteiligt an der Urbarmachung und Besiedlung des Klostertales im 12. Jahrhundert. (Lit.: Jussel. Rhomberg. Kaltenhauser. Spalt. Ulmer B. Wanner A)
„Walgau“ ist gleich Vorarlberg
Der Süden Vorarlbergs ab Götzis gehörte im frühen Mittelalter (5.-10. Jh.) zur churrätischen Grafschaft Unterrätien. Dieser Verwaltungsraum wurde als „Vallis Drusiana“ bezeichnet. (Wortdeutung umstritten)
Die churrätische Grafschaft Unterrätien bestand aus:
1.“Vallis Drusiana“ = Vorderland bis Götzis, Walgau, Großem Walsertal, Klostertal und Montafon
2. „In Planis“ (Gebiet um den Walsensee)
Der Walgau war das Gebiet der Welschen (Romanen), der Churwelschen oder Kauderwelschen, der Rätoromanisch-Sprachigen. Die Bezeichnung „Walgau“ findet sich erstmals 1123, 1249.
In der 1550 in Basel erschienenen „Cosmographia“ heißt es: „Walgow hat nicht von den Alemaniern den Nammen/ sondern von den Rhetiern / die wir Walen nennen / wie auch Walenstatt (…) hat aber den alten Nammen behalten Walgöw …“
Ab dem 13. Jh. kam für „Vallis Drusiana“ die Bezeichnung „Walgau“ auf. Dieser umfasste den gesamten Süden Vorarlbergs mit den 5 Herrschaften = das „Land im Walgau". Erst um 1400 bezeichnet „Walgau“ die heutige Tallandschaft, vor allem die Grafschaft Blumenegg. „Walgew“ ist bis Anfang des 17. Jhs. aber auch die gebräuchliche Bezeichnung für alle „Herrschaften vor dem Arlberg“, auch „Adelberg, Arlenberg“, seit der Mitte des 18. Jh. „Vorarlberg“ genannt.
(Lit. Brunner. Niederstätter E F. Tschaikner A)
Frühes Schrifttum, Wirtschaft und Gesellschaft
Über das Drusental (vallis drusiana) und damit den Walgau besitzen wir aus dem 9. Jh. in Europa einzigartige sozioökonomische Geschichtsquellen (Urkunden):
1. Um 800 das Rönser Reliquienverzeichnis: Die älteste „Urkunde“ Vorarlbergs mit dem ältesten Lokalbezug in Österreich.
2. Es folgen Urkunden aus dem Laienarchiv des Schultheißen Folcwin zwischen 817 und 825 und
3. schließlich das Besitz-, Einkünfte- und Güterverzeichnis (Urbar) des Reiches von 842/43
Folcwins Amtssitz als Beamter des rätischen Grafen war Vinomna= Rankweil. Sein Zweitwohnsitz war Schlins (Scliene). Zwei geistliche Urkundenschreiber, Drucio und Andreas, kamen vermutlich aus Schlins.
Ritter- und Grafenburgen
Der Walgau weist eine große Burgendichte auf – Minimum acht. Die meisten Anlagen finden sich auf der Tal-Nordseite. Es gab zwei Burgtypen: drei große Grafenburgen und fünf kleine Ritterburgen. Sie entstanden im Hohen Mittelalter (10.-13. Jh.) unter den Montforter und Werdenberger Grafen und ihren Lehensrittern (Ministeriale=Dienstleute) auf strategischen Anhöhen.
Die großen Burgen mit durchaus deutschen Namen waren im 13./14. Jahrhundert Ausgangspunkte für die sprachliche Alemannisierung des überwiegend von Rätoromanen besiedelten Walgaus. Im 14./15. Jahrhundert kamen sie an das Haus Habsburg, Welsch-Ramschwag (Nenzing) bereits im Jahr 1360 - es war die erste Habsburger Erwerbung in Vorarlberg. Eine Ausnahme war die Burg und Herrschaft Blumenegg: Ab 1417 gehörte sie zum Deutschen Reich und kam erst 1814 an Österreich.
Die Burgen waren seit dem 15. Jahrhundert wiederholten Zerstörungen ausgesetzt. Solche erfolgten erstmals in den Appenzellerkriegen im Jahr 1405 durch rebellische und antihabsburgische Feldkircher und Walgauer Bauern des „Bundes ob dem See“. Es betraf die Burgen Sonnenberg, Jagdberg, Rosenberg (Bürs) und Welsch Ramschwag. Das Aufkommen der Pulvergeschütze um 1500 ließ die Burgfestungen bedeutungslos werden. Der endgültige Verfall der Anlagen geschah im 18. Jahrhundert. Sie dienten auch als Steinbrüche. Walgaus Burgen sind heute allesamt Ruinen.
Grafenburgen: Jagdberg-Schlins, Blumenegg-Thüringerberg, Sonnenberg-Nüziders
Ritterburgen: Sigberg-Göfis, Horwa-Satteins, Rosenegg-Bürs, Frastafeders-Frastanz, Ramschwag- Nenzing
(Lit.: Huber. Ulmer A. Niederstätter A. D)
Die verhinderte Walgau-Identität
Der von den Illgletschern geformte und eingetiefte Walgau ist geografisch eine Einheit. Seit dem hohen Mittelalter erfolgte jedoch seine politische und verwaltungsmäßige Aufsplitterung in Herrschaften, Dekanate, Gerichtsstände und Gemeinden. Im 19. Jhd. verursachte die Industrialisierung einen kulturpolitischen Gegensatz zwischen armen Agrargemeinden und solchen mit Fabrikskapital.
Politisch und kirchlich aufgeteilt: kein Wir-Bewusstsein
Montfort-werdenbergische Herrschaften waren Montfort-Jagdberg und Werdenberg-Sonnenberg.
Die Reichsherrschaften Blumenegg (1614 an Weingarten) und St. Gerold (1648 an Einsiedeln) kamen erst 1814 an Österreich.
Habsburgische Erwerbungen waren: Welsch-Ramschwag 1360 / Feldkirch 1377 / Jagdberg 1397 / Sonnenberg 1474 / Bludenz und Montafon 1494
- Habsburgische Vogteiämter waren Bludenz mit den Gerichten Sonnenberg, Bludenz und Montafon sowie Feldkirch mit der Stadt Feldkirch, Jagdberg und Rankweil-Sulz (Göfis).
- Bezirkshauptmannschaften seit 1868:
Feldkirch: ehemalige Herrschaft Jagdberg, Frastanz ab 1902. Bludenz: ehemalige Herrschaften Sonnenberg und Blumenegg, Bludenz und Montafon.
- Kirchliche Dekanate:
Bludenz-Sonnenberg; Walgau-Großes Walsertal; Feldkirch mit Düns, Frastanz und einst die Herrschaft Jagdberg.
(Lit.: Niederstätter A. F)
Zwischen den Fronten spätmittelalterlicher Großmachtpolitik
Im 14. und 15. Jahrhundert stellten die Habsburger zwischen ihren Stammgebieten in der Schweiz und den Reichslehen in Ostösterreich eine territoriale Landbrücke herzustellen. Der Walgau spielte in diesem Zusammenhang als Transitland für Handel aber auch für das Militär eine wichtige Rolle.
Im Walgau stießen zwei Ideologien und Machtfaktoren aufeinander: Von Westen kam der Einfluss der nach Freiheit und Selbstständigkeit strebenden Schweizer - Anfang des 15. Jahrhunderts Appenzeller und St. Galler. Und von Osten aus vertraten die Habsburger und ihre verbündeten süddeutschen Adeligen den Feudalismus, die Adelsherrschaft und verhinderten nach Möglichkeit die ständisch-politische Mitsprache von Bürgern und Bauern. Die Repräsentanten ihrer Macht waren in Vorarlberg ihre Verwalter, vor allem die Vögte.
Der Appenzellerkrieg (1405-1408), an dem sich Ostschweizer mit Feldkirch und den Walgauern verbündeten, war ein Konflikt gegen Habsburg zum Erhalt alter lokaler Privilegien und zur Erlangung neuer Rechte. Er war eine gewaltsame und rebellische Auflehnung von Bürgern, Bauern aber auch einiger habsburgfeindlicher Adeliger. In diesem Zusammenhang wurden die Burgen Nüziders (1404) und 1405 Jagdberg, Blumenegg, Bürs und Ramschwag, allesamt auf Seiten der Habsburger, zerstört, ohne dass es scheinbar zu Kampfhandlungen kam.
Der sogenannte aufrührerische „Bund ob dem See“ hatte vorerst gesiegt, den Adel außer Landes vertrieben. Die beteiligten Walgauer, bestehend aus freien bäuerlichen Grundbesitzern und Leibeigenen, vereinigten sich in Gerichtsgenossenschaften und gaben sich sogar ein eigenes Siegel, Ausdruck von Selbstbewusstsein und einer talumfassenden Identität. Den Walgauern zur Seite stand auch Bischof (1388) und Graf Hartmann von Werdenberg-Vaduz. Er beteiligte seine Untertanen an der Mitregierung im Rechtswesen, gestattete die Ammannwahl und baute die Burg Nüziders wieder auf. Er nannte sie "Sonnenberg", und sie wurde sein bevorzugter Ansitz.
Was der „Bund“ forderte, waren Volks-Rechte, wie sie erst durch die Aufklärung und die demokratischen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts verwirklicht wurden:
Aufhebung der adeligen Standesvorrechte
Aufhebung der Leibeigenschaft und Hörigkeit
Aufhebung von Frondiensten, Vorspanndienst, Todfallabgabe, Jagdfreiheit
Autonomie der Gerichte: hohe und niedere Gerichtsbarkeit
Eigene Verfassung
Freie Ammann- und Richterwahl
Zusammenschluss zersplitterter Gerichtsbezirke
Trotz der militärischen Niederlage des „Bundes“ gegen den habsburgtreuen „Schwäbischen Ritterbund“ wurden die Aufständischen nicht verfolgt, sie behielten ihre Rechte, oder diese wurden gar noch vermehrt. Aber auch der geschwächte Adel und seine Verwaltung blieben an der Macht. Es war eine politische Patstellung, jedoch zugunsten der Entwicklung von mehr Rechten für Bauern und Bürger der Landstände.
(Bilgeri A. Niederstätter E)
Das Massaker von Frastanz 1499
Der Römisch-Deutsche König und Kaiser Maximilian (1459-1519) versuchte im Deutschen Reich die angeschlagene Macht der Habsburger zu erneuern. Zu diesem Zweck wurde eine Reichssteuer erlassen und ein oberstes Reichsgericht geschaffen. Die Eidgenossenschaft der Schweizer, noch zum Deutschen Reich gehörig, verweigerte jedoch die Neuerungen. Daraufhin versuchte Maximilian mit aggressiven militärischen Mitteln seine Pläne in der Schweiz durchzusetzen. Seine Aktionen fanden auch im Raum Vorarlberg statt, im Rheintal und im Walgau, außerdem im benachbarten Tirol und Graubünden. Der Walgau, strategisch gelegen, wurde wiederholt zum Aufmarsch- und Durchzugsgebiet der verfeindeten Truppen. Von hier aus plante Kaiser Maximilian militärische Unternehmen nach Tirol und ins verfeindete Graubünden. Die meisten seiner Kriegszüge scheiterten jedoch mit Niederlagen.
Eine der schmählichsten und verlustreichsten Niederlagen Maximilians in diesem sogenannten „Schwabenkrieg“ war die Schlacht bei Frastanz am 20. April 1499. Während die Walgauer Milizen, diesmal auf der Seite Habsburgs, hinhaltend kämpften, flüchteten Tiroler Söldner-Knechte. Und die gut gerüstete adelige Reiterei griff nicht ein und brachte sich in Sicherheit. Auch die befestigte Stadt Feldkirch hielt sich zurück. Fazit: 1500 Tote der „Kaiserlichen“ und ca. 500 der Walgauer Landwehr.
In einer Chronik hieß es: „… da theten die Walgöwer dapfferen widerstandt und hielten sich dermass, das die Eydtgnossen sagten, sy hetten in allen iren khrigen in hundert Jaren sölchen Widerstandt nie gehebt, dann da waren viel alter erbrer…man mit grauwen haren und bärten, die stunden als die stöckh und werten sich tröstlich…“
Entspricht die Anzahl der 500 Walgauer Kriegsopfer der Realität, dann waren diese im Verhältnis zur Walgauer Bevölkerung riesig: Frastanz hatte zu dieser Zeit ca. 450 und Nenzing 750 Einwohner, der gesamte Walgau mit Bludenz und dem Großen Walsertal zählte nur ca. 2.600 Einwohner. Die Hälfte der wehrfähigen Männer muss somit umgekommen sein. Die sozioökonomischen Folgen können nur erahnt werden. Dazu kam eine den Talbewohnern von den Schweizern auferlegte „Brandschatzungssteuer“ in der Höhe von 8.000 Goldgulden.
Die Kriegszüge endeten am 22. September 1499 mit dem Frieden von Basel, der den Schweizern die Loslösung aus dem Reich, die Souveränität, brachte. Die sogenannte “Erbeinigung“ von 1511 sicherte den gegenseitigen Frieden. Der Rhein im Alpenrheintal wurde für Vorarlberg fortan zur friedlichen Staatsgrenze.
Die unrühmliche Schlacht bei Frastanz lastete auch in den folgenden Jahrhunderten schwer auf dem kollektiven Bewusstsein der Tal-und Landesbewohner. Sie trug zur Entstehung von Legenden bei. Diese versuchten die Schmach der militärischen Niederlage und die Sinnlosigkeit der schrecklichen Todesopfer für eine dem Land aufgezwungene Habsburgerpolitik in Heldenmythen umzuwandeln: Da war der Frastanzer Hirtenknabe, der mit seinem Horn so lange vor den angreifenden Schweizern zu warnen versuchte, bis er vor Erschöpfung starb. Da kämpfte der standhafte und loyale Frastanzer Bertsch, der mit seinen sieben Söhnen zähen Widerstand leistend, den Heldentod starb. Und vor allem gab es den schändlichen Verräter und Spion Uli Mariß aus dem nahen Schaan. Er soll die Schweizer auf geheimen Wegen über das Älpele in den Rücken der Habsburger geführt haben, wodurch es allein zur Niederlage kam. Die untätigen adeligen Reitertruppen und kampfunwilligen Söldner traf somit keine Schuld.
(Lit.: Bilgeri A. Burmeister B. Gamon B. Niederstätter E)
Industrialisierung im 19. Jahrhundert
In den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts begann im Walgau ein Industrialisierungsboom: Bis 1850 entstanden hier 16 Betriebe, das waren 22% aller Vorarlberger Industriebetriebe. Die Standorte lagen in Frastanz, Nenzing, Gais, Thüringen und Bürs, ferner in Satteins und Schlins. Neben dem Rheintal war der Walgau das wichtigste Vorarlberger Industriezentrum: Bis 1850 waren dies 50% aller mechanischen Webereien, 26% mechanische Spinnereien und 23% Großfärbereien.
Die Industrie wies eine Monostruktur auf und betrieb Textilerzeugung und –bearbeitung. Die Voraussetzungen dafür waren sehr günstig: Es gab genügend Wasserkraft und Arbeitskräfte (Kinder, Jugendliche, Frauen), eine traditionelle Praxis in der bäuerlichen Heimspinnerei- und Weberei, außerdem einheimische Kapitalreserven aus Handel und Textilverlag (Ganahl, Getzner). Die Unternehmer kamen aus wenigen Familien: Aus Vorarlberg stammten Ganahl und Getzner. Aus dem Ausland kamen Elmer, Schlittler und Escher aus der Schweiz, Kennedy und Douglass aus Großbritannien. Die Arbeitnehmer rekrutierten sich aus der bäuerlichen Unterschicht der Fabriksumgebung - bis 1848 auch aus der Schweiz. Ab 1870 strömten aus dem italienischsprachigen Südtirol „Welschtiroler“ in die Fabriksorte.
(Lit.: Burmeister A. Getzner B. Johler. Mittersteiner. Sutterlütti. Weitensfelder. Welte A C)
Industriebetriebe im Walgau, 1. Hälfte 19. Jahrhundert - die „Gründerjahre“
Mechanische Webereien:
1834 Getzner Frastanz
1834 Escher-Kennedy-Douglass Thüringen (Douglass besaß 1839 eine der ersten Turbinen in der Monarchie, 1840 die erste Dampfmaschine in Vorarlberg.)
1835 Ganahl Frastanz
Bleichen:
1824 Getzner Frastanz
1836 Ganahl Frastanz
Druckereien:
1836 Elmer Satteins
1843 Ganahl Frastanz
Mechanische Spinnereien:
1830 Getzner Nenzing
1832 Graßmayr Frastanz
1834 Escher-Kennedy-Douglass Thüringen
1834 Ganahl Frastanz
1836 Getzner Bürs
1836 Ganahl,Wohlwend Frastanz
Großfärbereien:
1819 Getzner Frastanz
1831 Müller Bludesch-Gais
1836 Elmer Satteins
In den 40er-Jahren des 19. Jhs. waren ca. 20% der Wohnbevölkerung des Walgaus in der Textilindustrie beschäftigt, hauptsächlich Kinder, Jugendliche und Frauen - in Thüringen gar 70%! Vorarlbergs Männer zogen dagegen Arbeit im Ausland oder gar die Auswanderung vor.
(Lit.:Jussel A. Weitensfelder. Welte C. Schneider)
Bevölkerungsbewegungen im 19. Jahrhundert
Zwischen 1837 und 1869 nahm die Bevölkerung im Walgau trotz Industrialisierung nur von 4.500 auf 4.897 Personen zu. Die Ursachen waren Kriege und Wirtschaftskrisen nach 1848, die der Textilindustrie stark zusetzten. Diese trafen den Walgau jedoch nicht im selben Umfang: Bürs, Ludesch, Nüziders und Thüringen der BH-Bludenz verzeichneten gar Zuwächse. Im Gebiet der BH-Feldkirch nahm dagegen die Bevölkerung des Walgaus - mit Ausnahme von Frastanz ab. Hier war es die Industrie, die sich positiv auswirkte, in den ländlichen Gemeinden der nördlichen Talseite führte der Niedergang der Landwirtschaft zur Abwanderung und Entsiedlung.
Auch zwischen 1869 und 1910 war das Bevölkerungswachstum mit 23% bescheiden, wenn man etwa mit Feldkirch (91%) und Dornbirn (83%) vergleicht. Die Wirtschaft im Walgau stagnierte. Frastanz mit + 42% und Bürs gar mit + 76% waren Ausnahmen. Ursachen waren die Abwanderung von Kapital nach Bludenz (Getzner) und der Mangel an Energie. Elektrizitätswerke entstanden in Nenzing 1897 und in Frastanz 1910.
Wohnbevölkerung 1869 (1910):
Frastanz 1.664 (2.364) Göfis 972 (1.042) Satteins 890 (1.080) Röns 127 (150) Schlins 523 (695) Schnifis 379 (379) Düns 235 (188) Dünserberg 122 (117) Nenzing 1.975 (2.252) Bludesch 470 (492) Thüringen 595 (712) Ludesch 708 (803) Nüziders 866 (1.093) Bürs 753 (1.303)
(Lit.: Feurstein. Getzner. Klein. Welte. Werkowitsch)
Italienischsprachige Gastarbeiter vor 1918, die „Welschtiroler“
Vorarlberg erlebte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen neuerlichen Wirtschaftsaufschwung. Produktionssteigerungen in der Textilindustrie und der Ausbau der Infrastruktur führten zu Arbeitskräftemangel. Billige Arbeitskräfte wurden aus dem Trentino, Teil der Habsburgermonarchie, angeworben. Sie kamen als Einzelpersonen und mit Familien ab 1870/71 mit Schwerpunkt nach Bürs. Ein Teil waren Saison-Wanderarbeiter mit hoher Migration, andere ließen sich ständig nieder. Männer arbeiteten hauptsächlich im Bahn- und Straßenbau, bei der Wildbach- und Flussverbauung. Ledige junge Frauen (16-22 J.) arbeiteten in den Textilbetrieben von Bürs, Thüringen, Nenzing und Frastanz. Im Walgau (außer Bludenz) lag im Jahr 1910 ihr Anteil, gemessen an sämtlichen Welschtirolern, bei ca. 16%. Ihr Anteil an der Gesamt-Bevölkerung Vorarlbergs betrug 1910 ca. 6%. In manchen Gemeinden entstand ein bislang unbekanntes und „kulturfremdes“ Arbeiterproletariat.
Der Bludenzer Dichter Josef Wichner 1912: „ (…) was waren sie anders, als ein der Hölle entstiegenes Teufelsgesindel!?“
Der Anteil an der Gemeindebevölkerung betrug 1900 in Bürs 32,6%, in Thüringen 25,6%, in Frastanz 9,5% und in Nenzing 8,8%.
Als Arbeiterproletariat waren sie besitz- und rechtlos keine Gemeindebürger, ungebildet, unqualifiziert, sozial diskriminiert, nicht integriert, streikbereit.
Noch heute erinnern Familiennamen in Nenzing wie Bettega, Bianchini, Campestrini, Caser, Dallabrida, Deportoli, Libardi, Lorenzin, Minatti, Pecoraro, Simoni, Sperandio, Steffani, Stroppa, Tomaselli und Valentiniotti an sie.
(Lit.: Johler. Sutterlütti. Niederstätter C )
Große Feriensiedlungen
Die Existenz von Alphütten in der Gamperdona und die unter die Frastanzer Dorfbewohner aufgeteilten Heuhütten waren die Grundlage für Feriensiedlungen. Sie wurden sommerliche Naherholungsgebiete der Einheimischen und erlebten ihre Blütezeit erst nach 1945.
Gamperdona-Nenzing: Sommerferiensiedlung
- gegenwärtige Funktion: größte Kuhalpe Vorarlbergs, Ganzjahr-Ferienwohngebiet
- Funktionswandel: Bergtourismus seit 1900, Wegebau 1864, Hütten(aus)bau nach 1945, Jagdgebiet, Fe-Erzabbau (16.17.Jh.)
- historische Funktion: Jagdgebiet, Viehweide-Sennerei, seit der Bronzezeit Passverkehr nach Liechtenstein/Graubünden
- Namensgebung: Gamperdona=Rtr. champ arduond= rundes Feld?, Erstnennung 1515 Gamperthon, rätoromanisches Alp- und Wirtschaftsgebiet. Heutige Bezeichnung "Nenzinger Himmel".
- Anfänge: Bronzezeit, 2. Jahrtausend
Bazora-Frastanz:
Wochenendferiensiedlung
- gegenwärtige Funktion: Naherholungsgebiet, Schigebiet, Viehweideland, Ganzjahr-Feriengebiet
- Funktionswandel: 1806 Parzellierung der Gemeindegründe, Schitourismus seit 30er-Jahren des 20 Jhd., Schiliftbau 1948, „Hüttenbau“ seit den 60er-Jahren des 20. Jhd.
- historische Funktion: Viehweiden
- Namensgebung: Bazora statt Stutzberg und Garfaberg. Bazora = Rtr. Prau d sura = obere Weide. Erstnennung 1504 Blatzoren, rätoromanisches Alp-Wirtschaftsgebiet
- Anfänge: Mittelalter
(Lit.: Flür. Gamon A. Tiefenthaler)
Literatur
Barnay, Markus: Die Erfindung des Vorarlbergers. Ethnizitätsbildung und Landesbewußtsein im 19. und 20. Jh. / Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 3. Bregenz 1988. Bilgeri, Benedikt: Der Bund ob dem See. Vorarlberg im Appenzellerkrieg. Stuttgart 1968. A Bilgeri, Benedikt: Geschichte Vorarlbergs IV. Zwischen Absolutismus und halber Autonomie. Wien 1982. B Brogghi, Mario/Schlegel, Heiner: Natur und Landschaft (Frastanz). In: Marktgemeinde Frastanz (Hg.): Frastanz. Frastanz 1997. S. 10-21. Brunner, Anton: Die Vorarlberger Landstände von ihren Anfängen bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts. Innsbruck 1929. Burmeister, Karl, Heinz/ Rollinger, Robert (Hg.): Auswanderung aus dem Trentino- Einwanderung nach Vorarlberg. Die Geschichte einer Migrationsbewegung mit besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1870/80 bis 1919. Sigmaringen 1995. (A) Burmeister, Karl Heinz: Die Schlacht bei Frastanz am 20. April 1499. In: Vierteljahresschrift der Rheticus-Gesellschaft 1999, 2. S. 113-125. 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